Meldung vom 01.04.2025
Tagungsbericht Thüringer Städteforum: NORDHAUSEN – Woran erinnern?

Im ersten Panel stand die Frage im Zentrum, wie an die doppelte Diktaturerfahrung und die tiefgreifenden Umbrüche des 20. Jahrhunderts angemessen erinnert werden kann. JÖRG ARNOLD (München) ordnete in seinem Impulsvortrag die Zerstörung Nordhausens im Luftkrieg des Zweiten Weltkriegs in einen gesamtdeutschen Kontext ein und beleuchtete die damit verbundenen Gewalt- und Verlusterfahrungen. Er zeigte Unterschiede in der Erinnerungskultur zwischen DDR und Bundesrepublik auf und analysierte die Deutungshoheit über Begriffe wie Terrorangriff oder angloamerikanische Bombardierung. Eine usable past, so Arnold, sei bei Gewaltgeschichte nur schwer vorstellbar, da sich solche Erfahrungen kaum zukunftsgerichtet nutzen ließen. Vielmehr müsse man sich der Geschichte stellen, anstatt sie ausschließlich im familiären Gedächtnis weiterzugeben. Er verband diesen Umgang mit dem unsensiblen Wiederaufbau Nordhausens, bei dem historische Stadtstrukturen zugunsten eines sozialistischen Städtebauideals ignoriert wurden. Im Vergleich dazu nannte er süddeutsche Städte wie Freiburg im Breisgau oder Ingolstadt, die zerstörte Bausubstanz historisch orientiert rekonstruierten und dadurch ein anderes Verhältnis zur eigenen Stadtgeschichte entwickelt haben.
Bei der anschließenden Podiumsdiskussion berichtete BRITA HEINRICHS (Nordhausen) anhand von anschaulichen Beispielen aus der Bildungsarbeit der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora über die enge Verflechtung der Stadt mit dem Konzentrationslager und ihre heutige tägliche Bildungsarbeit mit jungen Menschen. HANS-JÜRGEN GRÖNKE (Nordhausen) sprach als Zeitzeuge und Denkmalpfleger über seine Erinnerungen an die zerstörte Stadt. Die Architektin PIA WIENRICH (Nordhausen), die eine Ausstellung zum Wiederaufbau in der DDR kuratiert hat, erläuterte die gestalterischen Freiräume für Architekten beim Neuaufbau, bei der die Versorgung der Bevölkerung im Vordergrund stand. Der bewusste Bruch mit der Vergangenheit war aus Sicht der DDR dabei kein Makel, sondern ideologisch gewollt. ALEXANDER ROTH (Halle/Saale) schilderte die Rechercheergebnisse, die er im Rahmen der für den MDR produzierten Dokumentationsreihe 1945 – Unsere Städte. Von der Zerstörung zum Wiederaufbau gewonnen hat, welche gezielt kleinere Städte wie Nordhausen in den Fokus rückt. Roth betonte zudem den Unterschied zwischen der emotionalen Wirkung von Zeitzeug:innen und der analytischen Einordnung durch Expert:innen in historischen Dokumentationen und Fernsehformaten.
Das zweite Panel stand unter dem Titel Aufbruch der Zivilgesellschaft: Von der Friedlichen Revolution 1989/90 bis heute. Nach einem Impuls des Lokaljournalisten, Historikers und Leiters der Traditionsbrennerei Nordhausen, THOMAS MÜLLER, über die Entwicklung der Friedlichen Revolution in Nordhausen sprachen die Zeitzeug:innen EVA BEHNKE, GISELA HARTMANN und HOLGER WENGLER (alle Nordhausen) mit dem Thüringer Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, PETER WURSCHI (Erfurt), über ihre Erfahrungen. Eva Behnke, ehemalige Mitarbeiterin und Teil des Ensembles des Theaters Nordhausen, berichtete über die Rolle des Theaters als Impulsgeber in der Friedlichen Revolution und den anhaltenden Stolz, diesen identitätsstiftenden Ort durch viele Krisen nach dem Ende der DDR bewahrt zu haben. Gisela Hartmann, engagiert in der Umwelt- und Friedensbewegung sowie langjährige Stadträtin, betonte, wie viel mit Vernetzung und kontinuierlichem Dialog erreicht werden kann. Ihr Appell: Der Austausch dürfe auch bei unterschiedlichen politischen Ansichten nie abreißen – eine Haltung, die sie für aktueller denn je hält. Holger Wengler, einst Sprecher des Neuen Forums Nordhausen, schilderte seine politischen Aktivitäten während der Friedlichen Revolution. ANDREAS MEYER, Vorstandsvorsitzender des Kreisjugendrings Nordhausen e.V., ergänzte das Panel mit einem Blick auf den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen nach 1990. Er hob hervor, wie sehr die Anforderungen an nachhaltige Jugendarbeit in den letzten 35 Jahren gewachsen sind.
Im letzten Panel diskutierten die Teilnehmenden, wie eine zeitgemäße Erinnerungskultur gestaltet werden kann. Nach einem Impuls der Professorin für Soziale Arbeit CORDULA BORBE nahmen der Schulleiter und Erster ehrenamtlicher Beigeordneter der Stadt ANDREAS TRUMP, der Unternehmer HELMUT PETER, der Koordinator des Vereins Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. JOACHIM HEISE sowie die Vorsitzende des Vereins schrankenlos e. V. STEPHANIE TIEPELMANN-HALM (alle Nordhausen) auf dem Podium Platz. FELIX ROTH (Nordhausen) stellte als Moderator die Frage ins Zentrum, wie man die Stadtgesellschaft – auch durch innovative, digitale und partizipative Formate – für Zeitgeschichte begeistern und zum Mitgestalten anregen kann. Cordula Borbe und Stephanie Tiepelmann-Halm betonten die Notwendigkeit, gezielt auch junge und migrantische Bürger:innen einzubeziehen. Joachim Heise regte an, den historischen Siechenhof Nordhausen, der u. a. als Polizeigefängnis für Kommunist:innen und Sozialdemokrat:innen sowie als Haftanstalt für ausländische Zwangsarbeitende in der NSZeit diente, als Erinnerungsort öffentlich zugänglich zu machen. Dieses Anliegen fand Unterstützung: Helmut Peter stellte finanzielle Hilfe aus der Wirtschaft in Aussicht, Pia Wienrich sagte zu, das Thema im Denkmalrat der Stadt zur Diskussion zu bringen.
Abschließend äußerten die Podiumsteilnehmer:innen ihre Wünsche für die Zukunft Nordhausens: eine positive wirtschaftliche Entwicklung als Oberzentrum, die Ausrichtung des Thüringentags 2027, eine lebendige Erinnerungskultur sowie der Wille, konstruktiv zusammenzuarbeiten und den Dialog offen zu halten – auch über die eigene Bubble hinaus.
Das Thüringer Städteforum in Nordhausen hat in seiner breiten Themenvielfalt einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Stadtgeschichte und den vielschichtigen Erinnerungs- und Verarbeitungsprozessen der Stadtgesellschaft geleistet. Es wurde deutlich, dass ein differenziertes städtisches Geschichtsbewusstsein notwendig ist, um sowohl die Erfahrungen der NS-Zeit und die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg als auch die DDR-Zeit und den Wiederaufbau angemessen zu würdigen. Die Diskussionen betonten die Bedeutung von Erinnerungskultur, die auch schwierige und ambivalente Aspekte einschließt, sowie die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Gestaltung eines lebendigen Gedenkens. Zudem wurde hervorgehoben, wie wichtig der Austausch zwischen Generationen, Institutionen und unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen ist, um eine nachhaltige und inklusive Erinnerungskultur zu entwickeln. Insgesamt zeigt die Tagung den Wunsch nach einer offenen, konstruktiven Stadtentwicklung, die historische Verantwortung anerkennt und die Zukunft aktiv gestaltet.
Konferenzübersicht:
Begrüßung und Einführung: Jörg Ganzenmüller (Weimar/Jena) / Kai Buchmann (Nordhausen)
Panel I: Nordhausens zweifache Diktaturerfahrung: Erinnerungskultur und Gedächtnisarbeit
Impuls: Jörg Arnold (München)
Diskussion: Brita Heinrichs (Nordhausen) / Hans-Jürgen Grönke (Nordhausen) / Pia Wienrich (Nordhausen) / Alexander Roth (Halle/Saale),
Moderation: Jörg Ganzenmüller (Weimar/Jena)
Panel II: Aufbruch der Zivilgesellschaft: Von der Friedlichen Revolution 1989/90 bis heute
Impuls: Thomas Müller (Nordhausen)
Diskussion: Eva Behnke (Nordhausen) / Gisela Hartmann (Nordhausen) / Holger Wengler (Nordhausen) / Andreas Meyer (Nordhausen)
Moderation: Peter Wurschi (Erfurt)
Panel III: Braucht Zukunft Vergangenheit? Perspektiven für einen Umgang mit der Geschichte
Impuls: Cordula Borbe (Nordhausen)
Diskussion: Andreas Trump (Nordhausen) / Helmut Peter (Nordhausen) / Joachim Heise (Nordhausen) / Stephanie Tiepelmann-Halm (Nordhausen)
Moderation: Felix Roth (Nordhausen)